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Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon sagt, dass aufgeklärte Religion genauso aussterben wird wie Männergesangsvereine


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    Michael Schmidt-Salomon beim 5. Kölner Forum für Journalismuskritik.

    Michael Schmidt-Salomon, Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung. (David Ertl)

    Religionen beeinflussen täglich politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen, weltweit. Doch sie sind nicht die einzigen derart wirkmächtigen Weltanschauungen. Auch Atheismus – die Ansicht, dass es keinen Gott gibt – hat tiefgreifende gesellschaftliche, kulturelle und politische Folgen.

    Einer der bekanntesten Atheisten Deutschlands ist der Philosoph Michael Schmidt-Salomon. Er ist Mitgründer und Sprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, die sich nach eigenen Angaben für "evolutionären Humanismus" und Aufklärung als "Leitkultur" einsetzt. Benannt ist sie nach einem der "bekanntesten Opfer von religiöser Gewalt", wie Schmidt-Salomon sagt: Der Priester und Philosoph Bruno wurde 1600 von der katholischen Kirche als "Ketzer" auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

    Im Interview erklärt Schmidt-Salomon, welche Konsequenzen die atheistische Weltanschauung des evolutionären Humanismus fürs Denken und Handeln hat, wo sie sich mit einem liberalen Religionsverständnis vereinbaren lässt - und warum religiöse Dogmen als "kulturelle Zeitmaschinen" so gefährlich sein können.


    Christiane Florin: Herr Schmidt-Salomon, warum haben Sie sich überhaupt für eine Weltanschauung, einen -ismus entschieden?

    Michael Schmidt-Salomon: Der evolutionäre Humanismus hat eine wunderbare Eigenschaft: Er ist eben evolutionär, das heißt, er ist auf einen Wandel ausgelegt. Er erhebt den Wandel zum Programm, es gibt also keine absoluten Dogmen, keine heiligen Schriften, keine unfehlbaren Propheten, die den Zugang zur absoluten Wahrheit haben. Wir gehen davon aus, dass alles, was Menschen sagen, was sie denken, fehleranfällig ist. Das wir zeitbedingten, kulturbedingten, kognitiven Verzerrungen unterliegen, und deshalb müssen unsere Erkenntnisse stetig verändert werden – und das hat mich eben sehr angesprochen, an dieser Art des Denkens, da gibt es einen kategorischen Imperativ auf diesem Feld, und der lautet: Wir müssen falsche Ideen sterben lassen, bevor Menschen für falsche Ideen sterben müssen. Und das ist in der Geschichte leider allzu selten geschehen.

    "Ich würde nicht behaupten, dass der Glaube an Gott widerlegt ist"

    Florin: Sie wurden nicht als evolutionärer Humanist geboren. Sie wurden auch nicht als solcher getauft, das wäre ja ein Widerspruch im System. Wie sind Sie es geworden?

    Schmidt-Salomon: Na ja ich wurde tatsächlich katholisch getauft. Ich hatte als Kind und auch heute noch ein starkes Verlangen nach logischer Konsistenz. Also, wenn sich jemand in einem Satz widersprochen hat oder Dinge behauptet hat, die mit den offenkundigen Fakten überhaupt nicht in Einklang zu bringen sind, hat mich das immer sehr stark irritiert.

    Florin: Was war das zum Beispiel, was Sie da irritiert hat als Kind?

    Schmidt-Salomon: Beispielsweise, wenn die Menschen tatsächlich glauben, dass vor 2.000 Jahren ein Mensch gestorben und von den Toten wiederauferstanden ist und dass sie tatsächlich das Heil finden, wenn sie diesem Manne nachfolgen, warum strengen sie sich da nicht mehr an? Und gleichzeitig habe ich mich natürlich gefragt: Kann das überhaupt stimmen, dass diese Geschichte passiert ist? Oder ist das gewissermaßen so eine Art Fake News der Vergangenheit? Den Begriff hatte ich damals natürlich nicht, aber ich habe mir darüber sehr viele Gedanken gemacht. Ich war auch wirklich bereit, mich von irgendeinem religiösen Glauben überzeugen zu lassen, aber das hat nicht funktioniert.

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    Florin: Das Evolutionäre im evolutionären Humanismus greift die Evolutionsbiologie auf – und das bedeutet unter anderem, dass der biblibsche Schöpfungsbericht widerlegt wird. Wieso ist damit auch der Glaube an Gott widerlegt, wenn man sagt, der Schöpfungsbericht, der stimmt nicht, das kann gar nicht so passiert sein?

    Schmidt-Salomon: Ich würde gar nicht behaupten, dass der Glaube an Gott widerlegt ist. Das Problem an diesem Begriff Gott ist, dass er nicht hinreichend definiert worden ist oder dass es unzählige Definitionen von Gott gibt. Ich kann nicht per se sagen, dass alle Definitionen im Widerspruch zu unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen. Ich habe Menschen getroffen, die haben gesagt: "Gott ist doch nur die Summe des Seins." Oder: "Gott ist die Liebe." Da ich weder an die Existenz dieses Universums zweifle noch an der Möglichkeit der Liebe, habe ich keinen Grund, diese Gottesvorstellungen widerlegen zu müssen. Ich würde nur als Philosoph darauf bestehen, die Liebe Liebe und das Universum Universum und das Sein Sein zu nennen, weil es sonst zu Verwechslungen führt. Meine Schwierigkeiten sind natürlich dann gegeben, wenn einem Gott bestimmte personale Eigenschaften zugeschrieben werden, wenn das mit einer Heilsgeschichte verbunden ist, die mit dem, was wir über die Welt wissen, schwerlich in Einklang zu bringen ist.

    "Viel Sinnvolles, sehr viel Unsinniges, sehr viel Gefährliches"

    Florin: Sie lehnen Religion für sich selbst ab. Warum möchten Sie auch, dass sich andere von der Religion verabschieden? Oder ich könnte auch andersherum fragen: Missionieren Sie für Ihren evolutionären Humanismus?

    Schmidt-Salomon: Also, ich will Menschen überzeugen mit guten Argumenten. Das heißt noch nichtmals, dass ich alle Religionen ablehne. Es gibt durchaus Überschneidungen zwischen meiner Philosophie und bestimmten Strömungen, die in allen Religionen entstanden sind. Beispielsweise große Übereinstimmungen mit Meister Eckhart im Christentum, dem Advaita-Hinduismus, dem Zen-Buddhismus, mit manchen Sufi-Strömungen im Islam, ich bin großer Anhänger von Spinoza – na gut, der wurde aus der jüdischen Gemeinde verbannt –, also es ist nicht so, dass ich generell sagen würde, ich lehne Religion ab. Ich sehe Religion tatsächlich an als kulturelle Schatzkammer der Menschheit, da findet man Sinnvolles, aber auch sehr viel Unsinniges und auch leider sehr viel Gefährliches. Ich würde eben anraten, dass wir die Religion einer kritischen Prüfung unterziehen. Würden die Menschen das gleiche Maß an Rationalität an ihre Weltanschauung anlegen, das sie beispielsweise zeigen, wenn sie ein Smartphone auswählen, dann sähe die Welt schon deutlich besser aus.

    Florin: Was ist das Gefährliche an den Religionen? Ich nehme an – oder ich weiß: Sie haben nicht eine einzelne Religion im Visier, sondern es ist etwas grundsätzlich Gefährliches, das Sie Religion attestieren.

    Schmidt-Salomon: Es ist diese starke Konzentration auf vermeintlich ewig existierende, absolute Werte. Wir wissen, dass sich die Menschheit im Verlauf ihrer kulturellen Evolution verändert hat. Dass wir auch uns in ethischer Hinsicht tatsächlich weiterentwickelt haben, von Wesen, die ursprünglich nur in den Grenzen der eigenen Horde gedacht haben, später vielleicht in den Grenzen der eigenen Religionsgemeinschaft oder der eigenen Nation bis hin zur Formulierung universeller Menschenrechte. Die Religionen sind zu einem Zeitpunkt entstanden, als diese Gedanken nicht konsensfähig waren in den Gesellschaften, insofern sind sie häufig so etwas wie kulturelle Zeitmaschinen, die Werte in die Jetztzeit bringen, die eigentlich längst obsolet sind.

    "Nächstenliebe und Fernstenhass gehen leider Hand in Hand"

    Florin: Welche Werte meinen Sie da?

    Schmidt-Salomon: Es gibt beispielsweise diese Konzentration auf die eigene Gruppe. Das eigentliche ethische Problem besteht ja nicht in der Nächstenliebe, sondern im "Fernstenhass". Nächstenliebe und Fernstenhass gehen leider, in der Regel, Hand in Hand. Die Religionen haben ja nicht eine Ethik, sie haben immer zwei Ethiken: eine Ethik für die Mitglieder der eigenen Religion und eine ganz andere für die Außenstehenden.

    Florin: Was meinen Sie damit? Dass sozusagen das Außenbild harmloser ist, als das Bild, was man nach innen vermittelt, oder umgekehrt?

    Schmidt-Salomon: Nein. Liebevoll, barmherzig, gütig zeigt sich Gott und soll sich der Gläubige zeigen gegenüber denjenigen, die auf dem rechten Pfad der Tugend sind.

    Florin: Eigentlich nicht. Wenn Sie das Neue Testament nehmen: Da wendet sich Jesus ja gerade denen zu, die nicht auf dem rechten Pfad der Tugend sind und sagt: Ich helfe dir trotzdem.

    Schmidt-Salomon: Ja, aber sie gehören zur gleichen Community. Wer aber trotz der Belehrung sich nicht daran hält, für den ist das ewige Höllenfeuer vorgesehen. Die Stellen, in denen Jesus das beschreibt, sind gewaltig. Selbst in der Bergpredigt oder in den Korrespondenzstellen finden Sie diese Passagen. Also beispielsweise, wer eine Frau lüstern anschaut, für den wäre es besser, er hätte sich die Augen aus dem Kopf gerissen, als sehenden Auges in das ewige Höllenfeuer zu kommen, wo der Wurm niemals stirbt. Das sind sehr massive Gewaltbotschaften, die auch im Neuen Testament angelegt sind, und auch in der Offenbarung des Johannes. Ich kenne keine Passage von de Sade, die so von grenzenlosem Sadismus der Bestrafung der anderen geprägt ist. Und das ist ja eigentlich das, was Religionen ausmacht: Sie schaffen einen Zusammenhalt in der eigenen Gruppe unter Abgrenzung von den anderen. Das ist die Wurzel von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.

    Das erklärt auch, warum wir heute weltweit diese merkwürdige Internationale der Nationalisten haben, wo sich nationale Chauvinisten mit reaktionären Religiösen verbinden. Egal, wo Sie hinschauen in der Welt. Das ist ein Phänomen des Christentums, der Evangelikalen in den USA, der Katholiken in Polen...

    "Nationalistische und reaktionäre religiöse Strömungen gehen zusammen"

    Florin: Der Orthodoxen…

    Schmidt-Salomon: … der Orthodoxen in Russland. Sie haben es im Islam in Saudi-Arabien, in der Türkei, im Iran an nationale Werte gekoppelt. Sie haben es auch bei den ultra-orthodoxen Juden in Israel. Sie haben es bei den radikalen Hindus und bei den radikalen Buddhisten. Das ist ein Phänomen: dieses Zusammengehen von nationalistischen und reaktionären religiösen Strömungen. Und wir können dem, meines Erachtens, nur entgehen, wenn wir diesem identitären Diskurs entgehen…

    Präsident Wladimir Putin mit dem Patriarchen der Russisch Orthodoxen Kirche, Kyrill I.

    Michael Schmidt-Salomon sieht Nationalismus und Religion vielerorts im Schulterschluss (picture-alliance/AP/Alexander Zemlianichenko)

    Florin: Sie haben allerdings jetzt die Bibel – oder allgemein: die heiligen Bücher – so fundamentalistisch gelesen wie ein Fundamentalist. Man kann die gewaltverherrlichenden Aussagen in der Bibel oder im Koran nicht wegdefinieren, aber man kann sie natürlich schon mit etwas Sachkenntnis einordnen, relativieren und kann sich auch mit gutem Grund die anderen Aussagen herausgreifen.

    Schmidt-Salomon: Ja, natürlich. Das kann man.

    Florin: Man kann so ein Buch nicht unbefangen und ohne Wissen lesen und sagen: Das steht da drin und das mache ich jetzt.

    Schmidt-Salomon: Absolut. Ja ja. Also ich bezweifle nicht, dass exegetische Virtuosen in der Lage sind, das zu tun. Aber sie müssen genau das den Gläubigen vermitteln. Und es ist nun einmal so, dass die humane Interpretation dieser religiösen Schriften offensichtlich nicht im gleichen Maße greift.

    "Ich habe mehr Gemeinsamkeiten mit dem Theisten Albert Schweitzer als mit dem Atheisten Josef Stalin"

    Florin: Zum Identitären, das Sie beschrieben haben, würde ich sagen: Jede Religion hat verschiedene Strömungen: fundamentalistische, liberale, konservative, erzkonservative, reaktionäre. Oft finden Sie eine starke Opposition zwischen den Liberalen und den Fundamentalisten. Die bekämpfen einander sehr viel stärker, als man die jeweils andere Religion bekämpft. Stimmt das mit diesem "Fernstenhass", ist es nicht eher die Polarität innerhalb der eigenen Religion?

    Schmidt-Salomon: Ja, gut. Wenn ein In-group-member, also ein Mitglied der eigenen Gruppe von dem vorgegebenen Pfad der eigenen Bewusstseins-Matrix abweicht, dann ist er noch gefährlicher als jemand, der direkt von außen kommt. Deswegen haben wir diese harten Auseinandersetzungen gehabt zwischen Katholiken und Protestanten und – jetzt immer noch – zwischen Sunniten und Schiiten.

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    Ich stimme Ihnen völlig zu: Die Religionen sind im höchsten Maße ambivalent: Es gibt sehr liberale Strömungen und es gibt sehr autoritäre Strömungen. Das finden Sie übrigens auch bei atheistischen Ideologien. Ich bin der Meinung, dass dieser vermeintliche Streit zwischen Theismus und Atheismus ein Scheingefecht ist, denn darauf kommt es gar nicht an. Ich habe viel mehr Gemeinsamkeiten mit dem Theisten Albert Schweitzer als mit dem Atheisten Joseph Stalin.

    Florin: Wenn dem so ist, dann steckt doch dieses Gefährliche, das Sie vorhin beschrieben haben, gar nicht im Wesen des Religiösen, sondern dann ist da noch etwas Anderes wirksam. Wenn ich als Beispiel die Menschenrechte nehme, die Ihnen sehr wichtig sind. Es gibt im Namen von Religionen gewaltige Verstöße gegen die Menschenrechte, gegen die Rechte von Homosexuellen, gegen die Rechte von Frauen zum Beispiel. Da müssten Sie sich doch mit den liberalen Strömungen der Religionen im Namen der Menschenrechte ganz gut verbinden können.

    Schmidt-Salomon: Das tun wir ja auch…

    "Jesu Erlösungstat ist ohne Hölle und Teufel so spannend wie Elfmeterschießen ohne gegnerische Mannschaft"

    Florin: Dann wäre also das Trennende gar nicht die Frage: religiös oder nicht-religiös, sondern es wäre was anderes.

    Schmidt-Salomon: Die Frage ist ja, inwieweit diese liberalen Christinnen und Christen, Muslime und Musliminnen tatsächlich noch dem Idealtypus ihrer Religion entsprechen. Der Aufklärungsprozess hat ja auch in den Religionen stattgefunden. Und das Problem, das ich einfach sehe, ist, dass es diese Selbst-Säkularisierung in diesen religiösen Communities gibt, und dass diese liberalen Strömungen sehr viel schlechter geeignet sind, Menschen an sich zu binden als autoritäre. Das ist ein Phänomen, das wir weltweit feststellen können: Je liberaler eine Religionsgemeinschaft auftritt, desto eher verliert sie Anhänger. Und je autoritärer sie sich gibt, desto eher kann sie Anhänger an sich binden.

    Und das hat etwas mit dem Wesen der Religion zu tun. Denn was bringt denn einen Menschen dazu, tatsächlich sein Leben auf eine spezifische Religion zu setzen? Es ist der Glaube, dass hier wirklich Wesentliches auf dem Spiel steht. Der Glaube an eine reine Metapher-Religion hat gar keine innere Dramatik, bindet die Menschen nicht tatsächlich an diese Weltanschauung, denn man muss gewissermaßen Opfer bringen, um zu den Auserwählten einer Religionsgemeinschaft zu gehören. Jesu Erlösungstat ist ohne Hölle und Teufel so spannend wie Elfmeterschießen ohne gegnerische Mannschaft.

    Die Menschen fragen sich: Warum soll ich einer Religion folgen, die man so, aber auch anders auslegen könnte? Ich unterstütze sehr die liberalen Strömungen innerhalb der Religionen. Ich habe beispielsweise Mouhanad Khorchide angeregt, ein Buch über den islamischen Humanismus zu schreiben, nachdem mein Freund Hamad Abdel-Samad ein Buch über den islamischen Faschismus geschrieben hat.

    Florin: Sie sagen diesen liberalen Strömungen keinen missionarischen Erfolg voraus.

    Schmidt-Salomon: Ich fürchte, dass diese Form der liberalen, aufgeklärten Religion so etwas wie eine absterbende Kulturerscheinung ist, vergleichbar mit Männergesangsvereinen, die "Am Brunnen vor dem Tore singen". Das ist natürlich gefährlich, denn diese liberalen Gläubigen haben das Interface geliefert zwischen den fundamentalistischen Gläubigen auf der einen und den rein säkularen Menschen auf der anderen Seite. Wenn das nun wegschmilzt, ist das ein gefährlicher Prozess. Ich denke, dass wir genau das auf der Welt derzeit beobachten können, diese Polarisierung in Lager, die kaum noch Gemeinsamkeiten haben.

    "Wer nicht an die Weiterentwicklung unserer Spezies glaubt, ist kein Humanist, sondern Zyniker"

    Florin: Profitieren Sie davon, dass nicht mehr so viele Menschen Mitglieder einer Kirche sind, dass sie entweder austreten oder gar nicht getauft werden?

    Schmidt-Salomon: Sie meinen die Giordano-Bruno-Stiftung?

    Florin: Ja, die Stiftung und die Weltanschauung, der sie angehören. Wird es bei den einen weniger und dafür bei Ihnen mehr?

    Schmidt-Salomon: Ich glaube, dass dieser Prozess nicht so eindeutig ist. Nein. Ich muss auch sagen, dass es tatsächlich liberale Katholiken und Protestanten – Kirchenmitglieder - gibt, die die Giordano-Bruno-Stiftung unterstützten, sogar Priester und Pfarrer. Es ist ja nicht so, als könnte man die Menschen beurteilen nach ihrer Konfessionszugehörigkeit. Aber der Prozess der Entchristlichung und Entkirchlichung ist stetig und wird auch nicht abflauen, denn er hängt nicht nur damit zusammen, dass Menschen aus der Kirche austreten, sondern auch damit, dass das Verhältnis von neu Getauften und Gestorbenen sehr ungünstig ist für die Kirchenstatistik.

    Zur Zukunft des Christentums in Deutschland - Die Verzwergung der Großkirchen
    Die jüngsten Kirchenaustrittszahlen sind noch dramatischer ausgefallen als zuvor. Studien prognostizieren den Volkskirchen eine Halbierung der Mitgliederzahlen. Droht das Ende des Christentums in Deutschland?

    Florin: Wir haben mehrmals über Ketzerstammtische berichtet, auch über die Ketzertage, die am Rande des Katholikentags stattfand. Auffallend war, dass dort genauso viel über die Kirchen gesprochen wurde wie bei den kirchlichen Veranstaltungen selbst. Wenn die Kirchen weg wären, gäbe es da noch etwas zu bereden oder bricht da ein ganz großes Thema weg, wenn Sie das Gegenüber Kirche nicht mehr haben?

    Schmidt-Salomon: Nein. Denn das unterscheidet den evolutionären Humanismus von der puren Kirchenkritik. Es ist eine Weltanschaung. Eine humanistische Weltanschauung. Was heißt das? Wenn ein Theist sich dadurch auszeichnet, dass er an Gott glaubt, so zeichnet sich ein Humanist dadurch aus, dass er an den Menschen glaubt. Das heißt nicht, dass Humanistinnen und Humanisten den Menschen für ein gottgleiches Wesen halten, aber es bedeutet sehr wohl, dass sie darauf vertrauen, dass wir bessere, freiere, gerechtere Lebensverhältnisse schaffen können, als wir sie heute vorfinden. Wer daran partout nicht glauben kann, an die Weiterentwicklung unserer Spezies, der ist eben kein Humanist, sondern Zyniker.

    Es ist die große Aufgabe, die menschlichen Lebensverhältnisse freier und gerechter zu gestalten. Sogar über die menschlichen Lebenverhältnisse hinaus, denn wir nicht die einzigen fühlenden Lebenwesen auf diesem Planeten. Wir haben eine sehr große Aufgabe und dieser Aufgabe widmet sich die Giordano-Bruno-Stiftung in ganz vielen Projekten. Wir versuchen einen besseren Stoffwechsel mit der Natur zu erreichen, auf dem Gebiet der Ökologie, wir versuchen Tierrechte in unserem Bewusstsein zu etablieren. Das sind alles Fragen, die völlig losgelöst davon behandelt werden müssen von der Frage, ob es Kirchen noch gibt oder nicht.

    "Neuer Atheismus - die religionskritische Spitze eines weltanschaulichen Eisbergs"

    Florin: Und was wäre besser, wenn weniger Menschen religiös wären? Es engagieren sich viele religiöse Menschen für Klimaschutz, für karitative Zwecke.

    Schmidt-Salomon: Das Problem ist, dass der Begriff religiös, den Sie in der Frage verwenden, nicht eindeutig definiert ist.

    Florin: Aber Sie haben ja eine eindeutige Definition. Sie müssen wissen, was Sie kritisieren.

    Schmidt-Salomon: Es gibt Bereiche des Religiösen, die ich überhaupt nicht kritisiere. Schleiermacher hat das Religiöse bezeichnet als den Sinn und Geschmack für das Unendliche. Ich meine, dass eine evolutionäre Perspektive, die auch die gewaltigen Dimensionen unseres Universums viel stärker bedient als die sehr anthropozentrischen religiösen Erzählungen, die wir kennen. Wer empfindlich geworden ist für den realen Zauber des Kosmos, der wird sich mit dem faulen Zauber der um den Menschen konzentrierten Schöpfungsgeschichten nicht so leicht abspeisen lassen. Das ist der eine Aspekt.

    Der zweite Aspekt ist: Wenn wir religiöse Institutionen in den Blick nehmen, wenn wir uns anschauen, welche Konflikte weltweit existieren, so sind die Konflikte bedingt durch eine nicht evolutionäre Betrachtungsweise der Welt. Der Neue Atheismus, über den so viel gesprochen wurde, war ja nur die religionskritische Spitze eines weltanschaulichen Eisbergs. Das, was unter der Oberfläche ist, ist viel gewaltiger. Es geht nämlich nicht nur um die Frage des Glaubens an Gott. Es geht um die Frage, ob wir ein Menschen- und Weltbild entwickeln können, das tatsächlich auf dem Niveau des 21. Jahrhunderts ist. Da ist noch unglaublich viel zu leisten. Das ist das Eigentliche: Es geht um einen neuen Humanismus, es geht um eine evidenzbasierte, rationale Betrachtung der Welt.

    "Alle leben in Filterblasen"

    Florin: Nun lässt sich wissenschaftlich nachweisen: Menschen sind nicht durchweg rational.

    Schmidt-Salomon: Es wäre auch nicht rational, immer rational sein zu wollen.

    Florin: Eben.

    Schmidt-Salomon: Klar, wir ziehen das schnelle Denken vor und reflektieren nicht so gern. Kein Mensch ist sehnsüchtig danach, die Prinzipien des kritischen Rationalismus anzuwenden, also seine eigene Überzeugung falsifizieren zu lassen. Wir leben alle in Filterblasen und designen die Welt nach unseren Erwartungen.

    Florin: Sie auch?

    Schmidt-Salomon: Ja, natürlich. Alle leben in Filterblasen. Kein Mensch hat jemand außerhalb von Filterblasen existiert. Dennoch ist Filterblase nicht gleich Filterblase. Es gibt Filterblasen, die den Kriterien der Rationalität einigermaßen genügen und solche, die grob dagegen verstoßen.

    Giordano Bruno, Philosoph und moderner Astronom (1548-1600) (Gundling)

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    Florin: Kritikfähigkeit ist (für den evolutionären Humanismus) ganz wichtig. Im Moment werden Denkmäler niedergerissen, im Wortsinne und im übertragenen Sinne. Wie kritisch sehen Sie die Judenfeindlichkeit von Giordano Bruno? Müssen Sie sich einen neuen Namen für die Stiftung ausdenken?

    Schmidt-Salomon: Nein. Giordano Bruno war jeder Religion gegenüber feindlich eingestellt, kann man sagen. Wer wirklich meinen sollte, das Giordano Bruno auch nur ansatzweise diesen eliminatorischen Judenhass oder Antisemitismus verfolgt wie Martin Luther, der täuscht sich gewaltig.

    "Es gibt keine unfehlbaren Propheten - das gilt auch für Giordano Bruno"

    Florin: Was müsste passieren, dass Sie sagen: "Das ist so viel Kritikwürdiges, dass wir den Namen austauschen müssen, wir legen uns auf einen Stiftungsnamen fest, der nicht eine Person zum Zentrum hat"?

    Schmidt-Salomon: Wir haben Giordano Bruno aus verschiedenen Gründen zum Namensgeber der Stiftung gemacht. Weil er das bekannteste Opfer ist von religiöser Gewalt, weil er Einsichten vorweggenommen hat, die wir heute erst wirklich begreifen können. Genau dafür ist er auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden nach sechs finsteren Kerkerjahren. Wir als Stiftung begreifen uns als eine Avantgarde. Wir wollen eine Zukunftsperspektive einbringen, die jetzt noch nicht von einer Mehrheit gedacht werden kann, die aber vielleicht in der Zukunft die Menschen bewegen wird. Man muss immer versuchen, Ideen in die Debatte einzubringen, die die Chance haben, uns als Spezies ein bisschen freier, ein bisschen rationaler, ein bisschen toleranter zu machen. Deswegen haben wir auf Giordano Bruno zurückgegriffen, weil er tatsächlich ein Zeitgenosse der Zukunft war und weil uns das ins Bewusstsein führt, dass es tatsächlich gefährlich sein kann, den Konsens der Zeit zu hinterfragen.

    Florin: Das ist auch eine Art Heiligsprechung.

    Schmidt-Salomon: Nein. Es gibt viele völlig irrsinnige Sätze bei Giordano Bruno. Ich habe ja schon gesagt: Für uns gibt es keine unfehlbaren Propheten, die die Wahrheit für sich gepachtet hätten. Das gilt auch für Giordano Bruno. Er ist sicherlich nicht mein Lieblingsphilosoph, aber er repräsentiert etwas, was weltweit verstanden wird.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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    Author: Sara Richards

    Last Updated: 1703462881

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